Im Sommer 2021 rief der Leseturm Literaturkreis Merseburg dazu auf, das 180jährige Jubiläum  der Wiederentdeckung der Merseburger Zaubersprüche in Worte zu fassen.

Im Dezember 2021 erschienen die Texte in der gleichnamigen Anthologie als gedrucktes Buch und als E-Book.


Hier ein Auszug aus meiner Kurzgeschichte.

Das Lied des Brunnens

1926 Merseburg

Wie ein Schatten glitt sie lautlos über den Domplatz. Im hochgeschlossenen Filzmantel nahm Rike weder Kälte noch Wärme wahr. Seit Tagen schon wandte sie sich von der Außenwelt ab. Hörte nur oberflächlich zu, antwortete schmallippig und verbarg sich in sich selbst. Das musste ein Ende haben!

Vor dem Brunnen blieb sie abrupt stehen, lauschte in die Stille und fand, wonach sie suchte: das Gurgeln des Wassers. Die Tropfen verschmolzen für sie zu einer Melodie. Wie früher. Zauberhaft. Ihr Gesicht gebar ein sanftes Lächeln. Zugleich verschwamm ihr Blick und mit dem nächsten Atemzug war sie wieder das zarte Mädchen von 14 Jahren. Vor Neugier und Übermut beugte sie sich zu weit über den Brunnenrand, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe hineingestürzt. Beinahe. Noch heute spürte sie die starke Hand auf ihrem Rücken, die sie damals im Leben hielt. Sie gehörte zu dem Mann, nach dem sich ihr Herz seither sehnte.

„Mein Augenstern.“, hatte er sie genannt. Bei ihren wenigen kostbaren Treffen am Dombrunnen, im Schatten der Platanen. Er hatte ihren Kopf in seine Hände genommen und voller Zärtlichkeit über ihre Wange gestreichelt. Das Plätschern des Wassers verwob sich mit dem Rauschen der Blätter zu einem märchenhaften Lied. Ihr Liebeslied.

Rike spürte das Holzkästchen in ihrer Manteltasche, das er für sie angefertigt hatte. Zwei Herzen, verbunden durch einen Wassertropfen, zierten den Deckel. Im Inneren lagen ihre letzten Worte an ihn. Unendlich schwer war es ihr gefallen, sie niederzuschreiben. Ein kühler Luftzug kam auf und fegte ihr in den Rücken, als wolle er sie antreiben. Am Brunnenrand hockte sie sich hin, zog mit den Fingerspitzen einen losen Stein aus der untersten Reihe. Dann legte sie das Holzkästchen in den Hohlraum und schob den Stein wieder davor. Verschlossen war ihre Liebe im Rand des Brunnens und tief in ihrem Herzen. Rauschen und Plätschern schwollen zu einem tobenden Crescendo an. Rike raffte ihre Kleider, fasste den Mantelkragen enger und lief schnellen Schrittes davon.

2021 Anderswo

„Heute musst du aber reinkommen! Ich habe extra deinen Lieblingskuchen gebacken: Apfel mit Streuseln.“, drängte Frau Keufler und erreichte Susannes Herz ebenso wie ihren Appetit. Die Dreiundneunzigjährige war aufgeregter als sonst. Ihre Augen huschten durch die Küche. Ihre Hände fanden keine Ruhe.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Susanne aufs Geratewohl.

Als hätte sie nur auf die Frage gewartet, platzte es aus der alten Dame heraus. Eine große Bitte lag ihr auf dem Herzen. Sie war ja nicht mehr die Jüngste. Konnte sich nicht mehr so gut bewegen. Letztes Jahr ging es noch. Aber die weite Reise. Das traute sie sich nicht mehr zu. Aber sie, Susanne, hatte doch von der Tagung in Merseburg erzählt.

In einem Schwall aus losen Sätzen und tiefen Seufzern erzählte Frau Keufler von ihrem Vater Otto, der ein lebenslanges Versprechen gegeben hatte. Alles begann 1913 in Merseburg. Otto war gerade 16 und zufällig in der Nähe des Dombrunnens. Ein junges Mädchen beugte sich zu weit über den Rand und wäre beinahe hineingefallen. Otto griff sofort zu, zog sie zurück und wollte sie fortan nie wieder loslassen. Amor hatte ganze Arbeit geleistet! Die zwei trafen sich heimlich am Brunnen und versteckten in einem Hohlraum im Brunnenrand eine Holzschatulle. Darin hinterließen sie sich Nachrichten und Briefe. Aufeinander warten, wollten sie. Gemeinsam die Welt entdecken. Zusammen alt werden. Aber von einem Tag auf den anderen kam sie nicht mehr. Bei ihrer Familie bekam er keine Auskunft und zu allem Unglück wurde der Brunnen zugemauert. Ihr geheimer Briefkasten war verloren. Otto verbrachte jede freie Minute auf dem Domplatz und hielt nach ihr Ausschau. Erst Monate später fügte er sich seinem Schmerz und begann weiterzuleben. Mindestens ein Mal im Jahr tauchte er in seine Herzenswelt ab, ging zum Dombrunnen und wartete auf sie. Nach Ottos Tod setzte seine Tochter die selbstauferlegte Bürde fort.

Beklommenes Schweigen hatte den süßen Kuchenduft aus der Küche verdrängt. Susanne war tief berührt und in Gedanken. „Wie hieß die Frau?“, fragte sie nach einer Weile. „Rike.“, flüsterte Frau Keufler und kramte ein Bündel vergilbter Briefe, mit einem Seidenband zusammengehalten, hervor. „Ihre Briefe an Otto. Er hat sie wie seinen Augapfel gehütet.“

„Wenn du in Merseburg bist, bitte geh für mich zum Dombrunnen. Um der Erinnerung willen. Das würde mir viel bedeuten!“, bat die alte Dame und legte Susanne das Bündel in die Hand.

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